Matthias Brenner, Intendant des neuen theater Halle
Wut. Trauer. Angst. Schuld.
Emotionen, die Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne ausleben, indem sie sich intensiv in ihre Rollen hineinversetzen.
Emotionen, die Matthias Brenner während des Lockdowns anzunehmen und durchzustehen hatte, ganz ohne eine Rolle.
Matthias Brenner ist Schauspieler, Regisseur, Autor und außerdem Intendant einer der großartigsten Kultureinrichtungen Mitteldeutschlands. Die Rede ist vom neuen theater in Halle.
Gleich zu Beginn dieses Textes möchte ich gestehen, dass das Gespräch und Shooting mit ihm für mich als Theater-Liebhaberin eine besondere Ehre war und gleichermaßen eine große Herausforderung, die vielseitigen tiefgründigen Gedanken dieses Mannes angemessen wiederzugeben.
Auch wenn er es vehement verneinen würde, sollte man ihn als solchen bezeichnen: Matthias ist ein Mutmacher. Er wird laut, wo andere leise sind oder sein müssen. Er steht voll und ganz hinter seinem Ensemble und in Zeiten, in denen es notwendig ist, stellt er sich auch schützend vor sein Ensemble. Ein herzlicher Mensch. Ein ehrlicher Mensch. Ein grundsympathischer Mensch, der bedacht, emotional und weltgewandt auf seine Umwelt reagiert.
Wir führen unser Gespräch ein Jahr, nachdem ich mit meinem Herzensprojekt begonnen habe. Knapp eine Woche, nachdem Putin den kriegerischen Angriff auf die Ukraine befohlen hat. Ein Gespräch losgelöst von diesem Geschehen kann daher nicht stattfinden.
„Der Schock über den Krieg ist immens. Was wir aktuell erleben ist die ehrliche Ratlosigkeit der westlichen Welt auf der einen Seite, die sich formierende Tätigkeitssehnsucht unglaublich vieler Menschen in einem großen Miteinander auf der anderen Seite.“
Schweigen.
„Unsere Seelen sind durch zwei Jahre Pandemie durch die Mangel mürbe gemacht worden. Nun haben wir diesen Krieg, der das Ganze relativiert. Wir leben trotz weiter vorherrschender Einschränkungen der Lockdown-Beschlüsse dennoch in einer Wohlstandsgesellschaft, das müssen wir uns jetzt vor Augen führen. Wie können wir uns aufregen, angesichts des Leids so vieler Menschen? Auch diese Gefahr bringt ein Krieg mit sich: Dass wir uns unsere eigenen Prinzipien und alltäglichen Gedanken überschreiben lassen. Doch wir dürfen uns innerlich nicht zerlegen lassen, damit ist niemandem geholfen. Wir, damit meine ich selbstverständlich auch und im Besonderen uns Kulturschaffende.“
Kultur und Kunst können der Andersartigkeit der Welt etwas entgegensetzen. Gerade jetzt ist es besonders wichtig, Brücken zu bauen, den Raum für ein Miteinander zu schaffen, den Menschen beiseite zu stehen in Zeiten der Ratlosigkeit und Ohnmacht. „Das kann Theater bewirken! Das Lachen der Komödie ist das schärfste Schwert, das wir haben.“
Matthias empfindet seinen Beruf daher als absolut erfüllende Berufung und hat selbst niemals an der Relevanz der Kulturschaffenden gezweifelt.
„Für mich war die Aufgabe in der Pandemie ganz klar: Die Krankenhäuser müssen entlastet werden. Also haben wir die Entscheidungen mitgetragen. Und als wir wieder öffnen durften, habe ich mich bewusst für die 2G Plus-Regelung ausgesprochen. Ich war für mich und für alle anderen vorsichtig. Wir wussten also, man wollte uns nicht absichtlich etwas Böses. Dennoch kam für die Kulturschaffenden der Lockdown einer Entmündigung gleich. Unsere Bestimmung – das tägliche Wunder, Menschen zusammenzubringen – war auf einmal schädlich, feindlich und entsolidarisierend. Unsere Stimme vor einem breiten Publikum zu erheben, um zum Nachdenken anzuregen, hätte auf einmal etwas „Ungutes“ herbeigeführt – eine mögliche Verbreitung des Virus. Ein solches Paradoxon erträgst du vielleicht ein paar Wochen, aber nicht dauerhaft. Und wie die meisten dachten wir, es sei alles in ein, zwei Wochen wieder vorüber.“
Die Premiere des großartigen Stücks „Vögel“, bei dem Matthias selbst Regie geführt hat, war die letzte Vorstellung vor dem ersten Lockdown. Mit Beginn des zweiten Lockdowns nahm die Frustration dann Oberhand.
„Man kann es unsere dickste schweigende Zeit nennen, in der ich – das bedauere ich immer noch sehr – als Intendant unterpräsent war. Doch es gab keine Blaupause, wie man die Menschen am besten auffangen und mitnehmen konnte. Jeder erlebte diese gezwungene innere Einkehr auf seine Weise. Es gab auf einmal kein Gegenwärtiges mehr, kein gemeinsames Lösen von Problemen, kein Aufarbeiten.“
Um dem etwas entgegenzusetzen und den Kulturschaffenden am neuen theater etwas zum Festhalten zu geben, gab es in regelmäßigen Abständen Videokonferenzen und es wurden Proben online angesetzt. „Doch der künstlerische Verlustwert blieb. Wir arbeiteten nur noch für kleine, unberechenbare Zeitfenster. Daher gab es niemals den Punkt des großen Frühlings, das „Wir sind wieder da!“. Die Pandemie bleibt uns in Wellen erhalten.“ Doch das empfindet Matthias nicht einmal als das Schlimmste.
„Das Allerschlimmste war und ist für mich, dass an der Existenz des Impfstoffs auf einmal Ideologien abgeleitet werden: Judensterne auf Demonstrationen der Impfgegnerschaft; Gruppen, die sich gegenseitig ausgrenzen; Spaltungen, die durch ganze Familien gehen. Das überfordert mich und meine Vorstellungskraft komplett. Vor allem vor dem Hintergrund des aktuellen Weltgeschehens.
Was wir benötigen, ist ein Miteinander und Füreinander. Mehr Mensch-Sein. An dieser Stelle kommen wir Kulturschaffenden ins Spiel. Unser Beruf scheint sich manchmal viel zu wichtig zu nehmen.
Das Theater kann die Welt nicht verändern. Sie zu kommentieren, das wäre wieder zu wenig. Doch wir können zeigen, was es bedeutet, Mensch zu sein! Wir stellen Lebensläufe des Scheiterns und des Erfolges dar und werben dafür, diese wahrzunehmen und dafür einzustehen. Auch wenn ich den Begriff der Relevanz generell nicht mag: Die Geschichte der Menschen ist relevant!
Die flüchtige Kunst von uns beschäftigt sich damit, diese Geschichte erlebbar und begreifbar zu machen, für alle. Diese Flüchtigkeit macht uns gleichzeitig auch zur demokratischsten Kunst von allen. Da wir live sind und unmittelbar im Moment agieren, haben wir eine direkte Verbindung zu unserem Publikum. Wir erleben lebendige Menschen vor uns und wie sie auf uns reagieren. Diese Gleichzeitigkeit, das ist unbezahlbar.
Natürlich kann man ohne Theater leben, solange man es nicht kennengelernt hat.
Was wir tun, ist von Bedeutung.
Wir sind eine Lebenshilfe.
Wir schaffen Raum für ein Miteinander.
Wir entfachen Debatten.
Wir stehen für Meinungsvielfalt und gegen Ausgrenzung.
Wir wirken der Abstumpfung entgegen.
Wir halten den Spiegel vor.
Wir ergründen, was den Menschen ausmacht.
Das ist unsere Tiefenrelevanz!
Jetzt mehr denn je!
Theater als Kunstvorgang wird nie sterben, solange es den Menschen gibt.“